Textressort - Storytelling

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Portraits

Fröhlich und vergnügt. Seit 98 Jahren.

Gertrud Bleich schaut aus dem Küchenfenster ihrer Wohnung. Ein typisches 60er Jahre Mehrfamilienhaus in Zehlendorf Süd. Vom zweiten Stock kann sie die Einbahnstraße hinter der Ladenzeile Ladiusstraße gut überblicken. Die Begrüßung ist herzlich, auch ihre Tochter und der Schwiegersohn sind zu Besuch.

Kaffeegedeck mit selbstgebackenem Nusskuchen

„Omi“, wie sie liebevoll von allen genannt wird, hat sich schick gemacht: Eine karierte Buntfaltenhose mit Bügelfalte, ein weißes Hemd, darüber einen roten Blaser mit goldfarbenen Knöpfen. Adrett wie eh und je. Sie hat Nusskuchen gebacken und den Kaffeetisch gedeckt. Die Herbstsonne scheint durch die makellos geputzten Fenster, die 62,5 Quadratmeter könnten gepflegter nicht sein. Ein Fotoalbum wartet auf dem mit Spitze bedeckten Couchtisch.

Omi mit Fotoalbum

Kindheit in Zehlendorf Mitte

Gertrud Wilhelmine Minna Schulze kam am 21. Oktober 1917 zur Welt. Das war vor 98 Jahren. Seinerzeit war sie das dritte Kind der 19 jährigen Ida Schulze, geb. Schneidereit. Es war eine Hausgeburt am Teltower Damm 23, heute ein sanierter Altbau in Zehlendorf Mitte, in dem sich Butter Lindner und Stottrop befinden. Den Vater erinnert Omi eher streng: „Unser Papa war ein ganz Frommer, der zuhause Andacht gehalten hat. Ein Mal hat unsere Katze während einer Andacht an Mutters Schürze gekratzt und fortan gab es keine Andacht mehr.“ Mutter Ida bekam noch ein viertes Kind und so teilte sich die sechsköpfige Familie die zwei Zimmer Parterre- Wohnung mit Küche und Bad. Im Gartenhaus gelegen, kamen die Kinder in den Genuss, auf einer kleinen Freifläche beim Wäscheplatz zu spielen. Im Sommer stiegen sie direkt durch das Wohnzimmerfenster aus, im Winter wurden ihre Decken an der Ofenheizung gewärmt.

Teddy mit Fotos auf dem Bett

Jugend im letzten Jahrhundert

Während der Vater als Verwaltungsangestellter im Behring Krankenhaus arbeitete, ging Omi mit ihren Geschwistern in die Nordgrundschule. Später besuchte sie eine Handelsschule. Sie machte einen Hollerith- Kurs (Lochkartentechnik), der ihr einen Arbeitsplatz bei Siemens ermöglichte. Darauffolgend fand sie eine Anstellung bei der Deutschen Reichsbank in Mitte. Seinerzeit fuhr ein Bankierzug nonstop vom Bahnhof Zehlendorf zum Potsdamer Platz, wenn auch nicht immer verlässlich: „Manchmal fiel der Zug aus, dann musste ich den kompletten Weg nach Hause laufen. Aber ich hatte einen Kollegen, der am Wilden Eber wohnte und seine Begleitung mochte ich sehr!“ Omi blättert interessiert in ihrem Fotoalbum: „Ich war im Reichsbanksportverein, im Segelverein, hier Skilaufen. Das ist an der Ostsee…“ Eine Kindheit und Jugend im letzten Jahrhundert, Fotos als stumme Zeugen, überwiegend schwarz-weiß, die die Jahre überdauert haben. Unvorstellbar viele Jahre.. Das Album war ein Geschenk ihrer Tochter zum 75. Geburtstag. Ein Best-Of aller erhaltenen Fotoalben, die sich in der großen Mahagoni Schrankwand im Wohnzimmer befinden. Im Fach ganz rechts oben, wie Omi offenherzig zeigt.

Jugend am Wannsee 1934

Als Auserwählte beim General Clay

Der zweite Weltkrieg forderte in ihrer Familie keine Opfer: Ihr älterer Bruder Joachim war zwar U-Bootfahrer, und der jüngere Bruder Günther Fallschirmjäger, gewesen, dennoch kehrten beide aus Kriegsgefangenschaft nach Berlin zurück. Nach 1945 meldete sich Omi bei den Amerikanern und wurde Reinigungskraft beim General Clay, nach dem die Clayallee benannt ist. Darauf ist sie stolz: „Nur wenige wurden auserwählt, den Konferenzsaal im Hauptquartier sauber zu machen. Ich war ganz scharf auf die alten Aschenbecher. Den Tabak haben wir aus den Zigaretten ausgekratzt und weiter verkauft, den Restkaffee haben wir selber getrunken.“

fliesen-kueche

Aus Schulze wird Bleich

Am 28. August 1948 heiratete Gertrud Wilhelmine Minna Schulze in der Zehlendorfer Pauluskirche Werner Erich Paul Bleich. Beide hatten sich zu Kriegszeiten kennengelernt. Werner war bei der Luftwaffe gewesen und hatte im Fronturlaub gelegentlich seine Tante besucht, die in Omis Nachbarschaft wohnte. „Wenn er dann kam, so in Uniform, das fand ich schick! … Den Namen Schulze mochte ich übrigens eh nicht, der war mir zu gewöhnlich!“ Für die Hochzeit nähte Omis Schwägerin professionell ein Brautkleid aus Fallschirmseide, denn sie führte mit Omis Bruder Joachim ein Bekleidungsgeschäft in der Clayallee. Joachim hatte ein Haus gemietet, in das auch Mutter Ida einzog, sodass die frisch Vermählten Bleichs’ die Wohnung am Teltower Damm 23 übernehmen konnten. Werner arbeitete fortan als Malergeselle bei einer Firma in Steglitz. 1949 wurde das einzige Kind Bärbel im Waldfriede geboren.

Blumenstrauss auf Fernsehtisch

Zeitreise mit Tagebuchaufzeichnungen

Die Zeitreise durch ein knappes Jahrhundert mit Omi geht weiter: „1956 unsere erste Reise mit Bärbel nach Winsen an der Aller, 1962 Umzug in den Ebersteinweg, 1970 Umzug in die heutige Wohnung…“ Nebst Fotoalben hat Omi viele Erlebnisse in Tagebuchaufzeichnungen festgehalten. Wie lange sie schon schreibt? Das muss sie nachschauen und holt die Kiste mit den Tagebüchern aus dem kleinen Gästezimmer, Schrankwand ganz links unten. Das Älteste datiert von 1980: „Das liegt nun auch schon wieder 35 Jahre zurück! Die Ärmsten, die nach mir räumen müssen!“ meint Omi und blättert: „Mit dem Schiff nach England, Motte und ich seekrank…“

Couchtisch im Gästezimmer

Diagnose Alzheimer

Anfang der 80er Jahre erkrankt ihr Mann. „Mit 65 ist Werner in Rente gegangen, mit 66 fing das an. Ich habe irgendwann gemerkt, wenn er etwas erzählt hat, war es immer wieder das Selbe. Er hat bei schlimmen Nachrichten gelacht, da lief es mir kalt den Rücken runter. Und dann, hat er gar nichts mehr gesagt.“ Omi geht mit Werner zu einer Ärztin, die Untersuchungen mit ihm macht. Dann die Gewissheit: „Sein Gedächtnis ist gleich null“. Dieses Fazit, diesen einen Satz der Ärztin, wird Omi nie vergessen. Wie sie ihn heute wiedergibt, klingt er genau so, wie er damals geklungen haben muss: Unfassbar. Ein Schlag ins Gesicht. Für einen Moment hält Omi inne, scheint wieder dort zu sein und sich zu fragen: Was nun? Was tun? Leere. Und als ob sie sich vergewissern muss, dass die Diagnose von damals tatsächlich Alzheimer war, wendet sie sich an ihre Tochter: „Sein Gedächtnis ist gleich null. Das hat die Ärztin doch gesagt?“
Omi funktionierte das kleine Gästezimmer zum Krankenzimmer um und pflegt Werner 13 Jahre lang zuhause. Ein Heim kommt für sie nicht in Frage. Ein Mal pro Tag kommt eine Hilfe, ansonsten verzichtet sie auf alles. Als Werner 1995 verstirbt, ist sie 78 Jahre alt.

Fensterspiegelung Omi

Zum 95. Geburtstag nach Singapur

Omi ist dennoch nie alleine, ihre Tochter wohnt mit dem Schwiegersohn zwei Häuser weiter und die Drei sehen sich täglich. Darüber hinaus wird Omi in Familienurlaube mitgenommen, so reist sie in den 90er Jahren fünf Mal in die USA. Zum 95. Geburtstag 2012 fliegt sie mit ihrem Enkel gar nach Singapur, ein Geschenk. Omi Bleich lebt genügsam, damals wie gegenwärtig. Ohne große Ansprüche. Ohne sich zu beschweren. Ihr elfenbeinfarbener Fliesenspiegel im Bad und ihre taubenblauen Küchenschränke entsprechen noch heute der original Ausstattung aus den 60ern. „Ich habe nie Andere gebraucht,“ sagt sie fast entschuldigend. Bescheidenheit ist eine Tugend, Omi ist diese Tugend in Person. Fragt man sie nach ihren schönsten Erinnerungen, entgegnet sie: „Als die Kinder klein waren. Wenn ich mit Bärbel auf dem Fahrrad ins Strandbad Wannsee gefahren bin. Das war die schönste Zeit.“ Zum Abschied winkt diese kleine, zierliche Frau aus dem Fenster: Fröhlich und vergnügt. Seit 98 Jahren. In Zehlendorf.

Omi winkt zum Abschied aus dem Fenster

Text und Fotos Sandy Bossier-Steuerwald

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